Glasscherben

 

Die Glasscherben sind überall da, wo wir sie nicht vermuten. Gedankenlos werden sie hingeworfen. Sie liegen auf Gehwegen, auf den schönsten Rasenplätzen, in den Einkaufszentren, auf der Strandpromenade, auf Parkwegen.
Anneli fühlt sich unternehmungslustig, es ist ein sonniger Tag, sie fährt im Park spazieren. Eichhörnchen springen Baumstämme hinauf und hinunter, die bunten Enten lärmen im Teich, Rotkehlchen, Spatzen, Grünfinken, Kleiber, Blaumeisen zwitschern, Zaunkönige suchen in der Rinde nach Larven.
Pfffffffffffff…
Das Geräusch übertönt den Vogelgesang.
Die Luft ist ´raus – die Lust geht flöten.
Anneli hoppelt auf der Felge zurück. Das heißt, sie versucht es, die Felge verbiegt sich – die Radnabe auch – das Rad dreht sich nicht mehr – mitten auf der Kreuzung.
Autos stauen sich. Hupkonzert.
Autofahrer kommen angestürzt: „ Können wir helfen?“ Sie warten nicht auf Antwort. Untereinander besprechen sie, wie das Hindernis von der Straße zu schaffen ist. Dann packen sie irgendwie den Rollstuhl und nach einigem Ächz‘ und Stöhn‘ haben sie es geschafft. Die Autofahrer sprinten zu ihren Wagen und fluchen, dass die Ampel schon wieder rot ist.
Der Rollstuhl steht auf der gleichen Straßenseite wie vorher, mitten in den Glasscherben. Anneli überlegt fieberhaft, was zu tun ist. Der Himmel bewölkt sich.
Sie wird eine Passantin ansprechen, falls eine da ist. Die meisten Leute haben ‚Eile‘ ins Gesicht geschrieben. Irgendwann kommt immer eine, deren Blick sie erhaschen kann.
„Hallo, guten Tag, würden Sie mir bitte helfen!“
Die hier guckt irritiert und geht schnell weiter.
Die vierte Passantin bleibt stehen und fragt: „Ja, wenn ich kann?“
„Würden Sie die Fahrbereitschaft für mich anrufen? Ich habe einen Platten.“ Die Telefonnummer sprudelt aus Annelis Kopf.
Die Passantin entfernt sich mit Annelis Telefonkarte und begibt sich auf die Suche nach einer Telefonzelle. Vielleicht kommt sie zurück. Vielleicht…? Anneli fährt nur mit drei Telefonkarten in der Tasche aus. Es gibt die reelle Chance, dass sie mit einer Nachricht zurückkommt. Der Fahrdienst wird in längstens drei Stunden da sein.
Es nieselt.

 

 Anneli sieht auf ihre Uhr. Wenn die Nummer nun besetzt ist? Es ist schon nach Acht. Der Fahrdienst arbeitet nur bis Elf. Die Straßenwacht? Polizei? Feuerwehr? Rettungsdienst? Sie helfen allen in allen Notfällen, aber in ihre Autos passt der E-Rolli nicht hinein.
Sie wird morgen noch hier stehen, im Sommer noch. An der Windseite setzt sich Moos an. Herbstlaub und Schnee bedecken ihre erstarrten Glieder. Die Anwohner gewöhnen sich an den Anblick, die Kinder schmücken die Schneefrau mit Vaters altem Hut. Legenden ranken sich um das seltsame Denkmal und irgendwann wird eine Tafel angebracht: „Die Wartende von Xavier Moore“.
Die Andenkenhändlerin legt eine Rabatte an und dann gibt es auch Ansichtskarten.

 

Aber die Passantin kommt zurück, der Fahrdienst braucht nur eine Stunde und Anneli ist wieder zu Hause. Die Füße sind eisig. Die Assistentin, die eine Wärmflasche machen könnte, kommt erst in einer Stunde. Es fällt schwer, sich noch positive Gedanken herbei zu zaubern.
Das Glück liegt zwischen den Glasscherben.